Tanzende Frau

Veröffentlicht am 04.04.2024

Die 4-Tage-Woche in Kanzleien: Kann das funktionieren?

Lydia Borchert von Härting im Interview

HÄRTING Rechtsanwälte besteht seit 1996 und beschäftigt sich vorwiegend mit den Themen IP- und IT-Recht. Unsere Mandant:innen – ob KMU oder Dax-Konzern, aus dem In- und Ausland – beraten wir insbesondere in den Bereichen Medien und Technologie. Lydia Borchert ist seit fast 20 Jahren für die Kanzlei tätig und hat als Allrounderin einen breit gefächerten Einblick in die Kanzleiprozesse.
 

Frau Borchert, Sie sind seit fast 20 Jahren bei Härting tätig. Wie sind Sie zu Härting gekommen? Was sind typische Aufgaben für Sie als Kanzleimanagerin?

Direkt nach meinem Abitur im Jahr 2004 habe ich bei HÄRTING Rechtsanwälte eine 3-jährige Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten absolviert. Schnell war klar, in dieser Kanzlei möchte ich bleiben. Nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung wurde ich übernommen und habe anschließend 15 Jahre in dem Beruf gearbeitet.

Seit 2022 bekleide ich nunmehr die Position der Kanzleimanagerin und bin in dieser Funktion für den kompletten Bereich HR zuständig, kümmere mich um Teile des Controlling, Social Media und Kanzleimarketing, koordiniere Events und Themen wie Arbeitssicherheit, Kommunikation, Public Relations, Socialising, IT, Office Organisation, Konfliktmanagement, Mitarbeitendenführung und vieles mehr.

Lydia Borchert
Lydia Borchert
Wir wollten nicht einfach auf den Zug aufspringen, sondern selbst gestalten. Das Thema [der 4-Tage-Woche] kam fest auf unsere Agenda.
Lydia Borchert

Härting sagt über sich selbst: „Wir sind nicht ganz normal. Aber im besten Sinne.” Was macht Ihre Kanzlei so anders und vor allem besonders?

Spannende Frage! Wir legen Wert auf flache Hierarchien und offene Kommunikation. Niemand muss bei uns Scheu haben, Dinge, die ihn/sie bewegen, anzusprechen. Wir geben Raum zum Ausprobieren von Ideen - egal, ob sie von Studierenden, der Assistenz oder Partner:innen stammen. So organisieren wir regelmäßig Gremien und Ideenwettbewerbe, in denen sich Mitarbeitende direkt mit eigenen Ideen einbringen können und legen Wert auf ein gemeinsames Gestalten des Kanzleialltages.

Unsere Räumlichkeiten sind offen und Arbeitsplätze mobil gestaltet, damit Mitarbeitende möglichst gemischt miteinander sitzen. Die Partner:innen sitzen in einem Raum mit Studierenden und Associates zusammen. Am folgenden Tag dann wieder in komplett anderer Konstellation. Geschlossene Türen findet man bei uns nur bei wichtigen Meetings und Telefonaten.

Wir veranstalten gerne Events neben dem Kanzleialltag oder nach Feierabend und legen Wert darauf, auch über das Business hinaus ein gutes Verhältnis miteinander zu haben, ob beim gemeinsamen Fußballspielen, Yoga oder Kanufahren.

Wir können mit dem teilweise noch sehr angestaubten, konservativen Image des Anwaltsberufs nicht viel anfangen und versuchen durch unterschiedliche Arbeitsmodelle mit Homeoffice-Möglichkeiten und Auslandsaufenthalten sowie einem modernen, digitalen Arbeitsumfeld auch Berufseinsteiger:innen für den Beruf zu begeistern.

Bei Neueinstellungen streben wir nach einer möglichst großen Vielfältigkeit an unterschiedlichsten Persönlichkeiten. Berufsanfänger:innen sind bei uns ebenso willkommen wie Juraprofis. Dabei schauen wir auf Motivation und Engagement und weniger auf persönlichen Background.

Diese Vielfalt spiegelt sich ebenfalls in der Zusammensetzung unserer Mandant:innen wieder, ob Privatperson, junge Start-ups, innovative Unternehmen oder Konzerne von Weltrang.
 

Ihre Kanzlei hat – zumindest testweise – die 4-Tage-Woche eingeführt. Gab es einen konkreten Auslöser für die Einführung? Warum haben Sie sich zunächst für eine Testphase entschieden?

Das Thema 4-Tage-Woche war in unseren europäischen Nachbarländern schon etablierter; zwischen den Partner:innen unserer Kanzlei wurde das Ganze - anfangs eher beiläufig und scherzhaft gemeint – dann doch immer wieder zum Gesprächsthema. Irgendwann ließ es uns nicht mehr los. Gleichzeitig entstand bei unseren Mitarbeitenden der Wunsch nach einer besseren Work-Life-Balance.

Uns war klar, eine Kanzlei kann nur mit motivierten und erholten Mitarbeitenden funktionieren. Wir wollten hin zu besserer Vereinbarkeit von Familie und Beruf, stressfreierer Planbarkeit von Arztbesuchen, Ehrenämtern und Freizeitaktivitäten.

Ziel war es gleichzeitig, nicht abzuwarten, bis sich das Konzept auch in Deutschland etabliert, sondern selbst aktiv zu werden. Wir wollten nicht einfach auf den Zug aufspringen, sondern selbst gestalten. Das Thema kam fest auf unsere Agenda. Bevor man ein Konzept nicht in der Praxis testet, lässt sich aber nur schwer abschätzen, welche Auswirkungen die 4-Tage-Woche auf die Arbeitsabläufe einer Rechtsanwaltskanzlei hat oder ob sich der Mehrwert einstellen würde, den wir uns erhofften.

Viele Erfahrungswerte aus anderen Kanzleien gab es zu dem Zeitpunkt nicht. Deshalb stand schnell fest, dass wir das Konzept erst testen würden. In einer Abstimmung unter unseren Vollzeitmitarbeitenden sprachen sich dann auch fast 90 % für die Einführung einer Testphase aus.
 

Welche Herausforderungen sind Ihnen und Ihren Kolleg:innen bei der Planung der 4-Tage-Woche begegnet? Wie sieht die konkrete Umsetzung bei Härting aus?

Die größte Herausforderung in der Planung war, ein organisatorisches Chaos zu vermeiden. Daher war schnell klar, dass alle Mitarbeitenden am selben Tag frei haben würden. So herrscht auch bei Mandant:innen Klarheit darüber, wann wer wie erreichbar ist und der interne organisatorische Aufwand hält sich in Grenzen.

Zudem lag die Vermutung nahe, dass bei einer klar strukturierten 4-Tage-Woche mögliche Auswirkungen besser erfassbar wären. Um von einer längeren Erholungsphase aufgrund des Wochenendes zu profitieren, entschieden wir uns für den Freitag als zusätzlichen freien Tag. Freitags bleibt die Kanzlei zu.

Wir reduzierten in der Folge die Arbeitszeit aller Vollzeitmitarbeitenden von 40 auf 36 Stunden bei vollem Lohnausgleich; sprich die Arbeitszeit unserer Mitarbeitenden entspricht täglich 9 Stunden von Montag bis Donnerstag zzgl. Pausenzeit.

In der Assistenz wurde ein freitäglicher Notdienst eingerichtet, damit für Notfälle die Erreichbarkeit sichergestellt sein würde und eilige Postein- und/oder -ausgänge nicht liegen bleiben. Dieser Notdienst wird durch einen zusätzlichen freien Tag in der Folgewoche ausgeglichen.

Die Testphase dieses Experiments lief bis zum 31.03.2024. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz aus? 

Grundsätzlich schätzen unsere Mitarbeitenden die längere Erholungsphase durch das verlängerte Wochenende sehr. Mitarbeitende, die zu Beginn der Testphase Befürchtungen hatten, 9 Stunden konzentriertes Arbeiten vielleicht nicht leisten zu können, haben sich nach eigener Aussage im Laufe der Testphase daran gewöhnt.   

Wir legen nach wie vor Wert darauf - trotz der zusätzlichen Möglichkeit auch mal im Homeoffice zu arbeiten - uns regelmäßig im Büro zu begegnen und austauschen zu können. Das stärkt das Teamgefühl und stellt sicher, Arbeit auch im Team fortführen zu können. Das setzt bei nunmehr nur noch vier Arbeitstagen pro Woche definitiv eine gute Organisation voraus.

Natürlich ist bei Kanzleien auch der wirtschaftliche Faktor entscheidend für Erfolg oder Misserfolg eines solchen Projekts. Erfreulicherweise gibt es aber auch mit Blick auf die Umsätze keine zwingenden Gründe, die gegen die Fortführung der 4-Tage-Woche sprechen.
 

Kanzleien sind häufig dafür bekannt, dass Anwält:innen allzeit erreichbar sind. Was passiert nun, wenn bei Mandant:innen am fünften Tag  „die Hütte brennt”?

Wir halten das Bild, dass Anwält:innen 24/7 erreichbar sein müssen, für längst überholt - zumindest in unserem Bereich. Das erwarten auch unsere Mandant:innen nicht. Wichtig ist, dass unsere Mandant:innen wissen, dass sie sich auf uns verlassen können. Wir kommunizieren transparent und stellen gemeinsam mit unseren Mandant:innen sicher, dass sie unsere Unterstützung bekommen, wenn sie sie brauchen.

Unsere Anwält:innen haben ein hohes Verantwortungsbewusstsein für unsere Mandant:innen und ihre Interessen - dazu gehört natürlich auch der regelmäßige Blick ins Postfach. Da besteht aber gar kein großer Unterschied zur 5-Tage-Woche: auch da kann die Hütte - z.B. mal an einem Samstag - brennen. Schon vor der Erprobung der 4-Tage-Woche ist es in Einzelfällen vorgekommen, dass am Wochenende Angelegenheiten mit hohem Dringlichkeitsbedarf bearbeitet wurden.

Das kennen sicher die meisten, die im Anwaltsberuf tätig sind. Das Wochenende erstreckt sich bei uns nun nicht mehr nur auf Samstag und Sonntag, sondern schließt eben auch den Freitag mit ein - und wie vorher bei der 5-Tage-Woche finden wir auch nun in solchen Situationen gemeinsam mit unseren Mandant:innen immer eine Lösung.
 

Kurzes Resümee: Hat die 4-Tage-Woche Auswirkungen auf die Produktivität Ihrer Kanzlei? Welches Feedback haben Sie von den Mitarbeiter:innen bisher erhalten?

Unsere Mitarbeitenden freuen sich auf das verlängerte Wochenende und sind tendenziell montags bis donnerstags produktiver, um sich den freien Freitag auch zu ermöglichen. Das setzt natürlich eine klare Struktur und eine gute Organisation des eigenen Arbeitsalltages voraus. Aber auch Besprechungen müssen klarer organisiert, Erwartungen eindeutiger formuliert und Prozesse auf den Prüfstand gestellt werden. Produktivität kommt eben nicht von allein.
 

Wie sieht es mit den Rückmeldungen Ihrer Mandant:innen aus? Sind Sie dort auf Gegenwind gestoßen?

Unsere Mandant:innen reagierten von Anfang an positiv und aufgeschlossen, fanden das Experiment interessant und innovativ. Auch während der Probephase haben wir fast ausschließlich zustimmendes Feedback bekommen.

Auch viele Bewerbende betonen nach wie vor ihr Interesse an unserem Konzept. Die Zahl der Initiativbewerbungen hat sich ganz klar erhöht. Gegenwind gab es zu Beginn vor allem von anderen Anwaltskolleg:innen nach dem Motto “Das kann ja gar nicht funktionieren”.

Ja, wir werden die 4-Tage-Woche ab April 2024 fest einführen, wenn auch mit ein paar Anpassungen.
Lydia Borchert

Sehen Sie auf dem deutschen Rechtsmarkt eine Zukunft für die 4-Tage-Woche? Denken Sie, dass viele Kanzleien Ihrem Vorbild folgen werden?  

Die 4-Tage-Woche ist sicher ein tragfähiges Zukunftsmodell. Wir wollen Mut machen, das Ganze auszuprobieren bzw. einen Anstoß geben, das Thema mit den eigenen Mitarbeitenden zumindest einmal zu diskutieren.

Sicher funktioniert das bei uns getestete Konzept nicht für alle Kanzleien. Bei der Umsetzbarkeit kommt es ganz klar auch ein bisschen auf das Rechtsgebiet an, das eine Kanzlei abdeckt. Strafrechtler:innen, deren Mandant:innen regelmäßig verhaftet werden, haben natürlich mehr Probleme, die Kanzlei an einem Freitag einfach zu schließen. Aber vielleicht würde in dem Fall auch die Einrichtung eines Notdienstes Abhilfe schaffen.
 

Die spannendste Frage zum Schluss: Wird die 4-Tage-Woche nun fest bei Härting eingeführt?

Ja, wir werden die 4-Tage-Woche ab April 2024 fest einführen, wenn auch mit ein paar Anpassungen. Eine Erkenntnis aus der Testphase ist z.B., dass wir - entsprechend des freien Berufsbildes der Anwaltschaft mehr Flexibilität bieten wollen. Der Freitag bleibt als fixer freier Tag für alle bestehen. Wir ermöglichen unseren Mitarbeitenden jedoch nunmehr, sich die Arbeitszeit noch eigenverantwortlicher einzuteilen. Manchmal ist man einfach weniger leistungsfähig, hat mehr familiäre Verpflichtungen oder schafft aus sonstigen Gründen die Aufgaben in der Zeit von Montag bis Donnerstag nicht.

Jede:r Mitarbeitende hat individuelle Bedürfnisse, die in einem zu strikten Konzept nicht genug Berücksichtigung finden. Es gilt daher: Weiterhin wird von niemandem erwartet, dass er/ sie am Freitag arbeitet. Wenn es aber besser in die individuelle Planung der Woche passt, steht jedem und jeder die Kanzleitür offen. Im Grunde ist auch das wie vorher am Wochenende der 5-Tage-Woche: Jeder kann, keiner muss.
 

Ihr Fazit?

Ich persönlich genieße meinen zusätzlichen freien Tag, gehe zum Sport oder organisiere Dinge, die im normalen Familienalltag schwieriger umsetzbar sind.
Die Arbeitswelt wandelt sich. Das Thema Vereinbarkeit von Familien und Beruf nimmt einen immer höheren Stellenwert ein. Die 4-Tage-Woche ist daher klar eine Perspektive für die Zukunft.


Vielen Dank, Frau Borchert!