Der Hauptgrund, warum so viele Jurist:innen ihren eingeschlagenen Karrierepfad nicht verlassen

Verfasst von Marie-Theres Boetzkes|Veröffentlicht am 30.10.2023

Warum viele Jurist:innen ihren Karrierepfad nicht verlassen

Was müsste sich ändern, damit wir Jurist:innen mutiger werden?

Dieser Artikel erscheint im Rahmen unserer dreiteiligen Artikelserie mit Maresi Boetzkes. In der Artikelserie teilt Maresi ihre Erfahrungen und Learnings, die sie während ihrer eigenen beruflichen Veränderung machen durfte.

Als ich 2019 die Juristerei verließ, war ich ein eher seltenes Exemplar. Zumindest konnte ich das aus den Reaktionen meines doch recht juristischen Umfelds klar erkennen. Erstaunen, Irritation, Ungläubigkeit. All das sah ich in den Gesichtern, wenn ich erzählte, dass ich fürs Erste für ein Sozialunternehmen arbeiten und nicht mehr als Anwältin tätig sein wollte.

Ein Wechsel aus der Kanzlei in eine andere Kanzlei, in den Staatsdienst oder in eine Rechtsabteilung ist noch sehr üblich, ein Wechsel vom Staatsdienst in eine Kanzlei oder in ein Unternehmen schon seltener - aber ein Abschied von der Juristerei: Das kommt eigentlich so gut wie nie vor. 

Ich habe mich gefragt, warum wir Jurist:innen eigentlich so selten den einmal eingeschlagenen Karrierepfad verlassen und bin für mich zu einem spannenden Ergebnis gekommen.
 

Viele beginnen das Studium ohne klare Vorstellung davon, was sie später damit machen wollen

Viele von uns kennen den Spruch nur allzu gut: “Mit Jura kannst du alles machen!” Für einige war es vielleicht sogar die eine Aussage, die sie davon überzeugt hat, Jura zu studieren. Mir ging es jedenfalls so. Ich hatte zwar keine Vorstellung davon, was dieses “Alles” bedeuten könnte - ich fand es aber gut, dass mir mit Jura wohl unzählige Möglichkeiten in der Arbeitswelt offen stehen würden.

Und so startete ich in dieses Studium ohne genauen Plan und ohne genaue Strategie, was ich damit später einmal anstellen würde. Lernte für Klausuren und Hausarbeiten, arbeitete in Kanzleien, absolvierte Praktika in klassischen juristischen Berufen, lernte fürs Examen und fand mich zu guter Letzt im Referendariat wieder. 

Was ich damit sagen will: ich habe nicht besonders viel nach rechts und links geschaut. Ich habe dieses Studium einfach so studiert, wie die allermeisten Jura studierten und Nebenjobs und Praktika absolviert, die die allermeisten so absolvierten. 

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Die Ausbildung fokussiert nur klassische juristische Berufe

Leider habe ich mich dadurch über meine gesamte Ausbildung hinweg ganz klar auf eine Richtung fokussiert und spezialisiert: die klassisch juristische Arbeit als Anwältin, Staatsanwältin, Richterin oder Syndikusanwältin. So geht es vermutlich 95 % aller Jurist:innen in ihrer Ausbildung. Je weiter die Ausbildung voranschreitet, desto begrenzter werden scheinbar auch die beruflichen Möglichkeiten.

Gleichzeitig wächst der Druck auf ein Prädikatsexamen. Richterberuf, Staatsanwaltschaft und Großkanzlei können der Erzählung nach überhaupt nur mit den magischen neun Punkten anvisiert werden (obgleich ich diese Erzählung in den letzten Jahren ein ums andere Mal widerlegt bekommen habe). Wenn das mit dem Prädikat nicht klappt, dann bleibt nur noch Feld-, Wald-, Wiesenanwalt oder Taxi-Fahren – so mein Professor für Zivilrecht im 1. Semester zu uns. Was mit “Mit Jura kannst du alles machen!” beginnt, endet also schnell mit “Mit Jura machst du Jura, und cooles Jura auch nur dann, wenn du neun Punkte hast!”

Das ist wirklich schade und sollte sich aus zwei Gründen ändern:
 

Das Wissen um die Vielseitigkeit würde viel Druck nehmen

Eine breitere Sicht auf die beruflichen Möglichkeiten könnte schon bei den Studierenden enormes Potenzial freisetzen. So wie die Ausbildung bislang gestrickt ist, bildet sie nicht annähernd das Spektrum ab, das die Berufswelt für Jurist:innen bereithält.

Seit ich mich dazu verschrieben habe, diese eher “unkonventionellen” Jurist:innen aufzudecken, stelle ich immer wieder mit Erstaunen fest, in welchen Bereichen wir alle tätig sind. Als Autor:in, als UX-Designer:in, Produkt-Manager:in, Coach:in, HR-Manager:in, Geschäftsführer:in, Gründer:in. Wenn es doch noch etwas Jura sein darf, sind wir auch in Legal Tech Unternehmen, in der Politik oder z.B. auch im juristischen Verlagswesen zu finden. Es sind diese Berufe, die ich während meines Studiums auch gerne kennengelernt hätte. 

Natürlich kann ich hier erst einmal nur für mich sprechen - aber ich bin mir sicher, dass mir dieses Wissen viel Druck im Studium genommen hätte. Ich hätte damals schon gewusst: “Mit Jura kann ich auch ohne die neun Punkte einen spannenden und erfüllenden Beruf finden.” Ich hätte mich auch bewusster für oder gegen einen juristischen Beruf entschieden, weil ich gewusst hätte, welche Alternativen es sonst noch für mich gibt.
 

Nicht jede:r wird glücklich mit Jura 

Die enge Ausrichtung der Ausbildung führt auch dazu, dass viele Jurist:innen nur in einem juristischen Beruf landen, weil sie sich gar nicht vorstellen können, welche Möglichkeiten ihnen der Arbeitsmarkt noch bietet – und nicht, weil sie Jura gerne mögen und/oder gut können.

Wie das enden kann, ist recht offensichtlich: Mit einem Karriereweg, der weder auf ihre Talente noch Interessen einzahlt und somit zur Unzufriedenheit führt. Viel unentdecktes Potenzial auf einem Arbeitsmarkt, auf dem wir mit all unseren Fähigkeiten – nicht nur den juristischen - mehr als erwünscht wären. 

Neugierig bleiben heißt die Devise. Nach links und rechts schauen. Mit Menschen in Kontakt treten, die wir inspirierend finden.

Was müsste sich ändern, damit wir Jurist:innen mutiger werden?

Im Studium wäre es ein Leichtes, die Engstirnigkeit auf klassische Jura-Karrieren mit Nebenfächern aufzubrechen. Die Universität Potsdam geht diesen Schritt bereits: Sie bietet einen im Jurastudium integrierten Bachelor of Laws (LL.B.) an, für den drei zusätzliche (fachfremde) Kurse passend zum eigenen Schwerpunktbereich zu belegen sind. 

Nebenfächer für mehr Vielseitigkeit

Für meinen Schwerpunktbereich “Internationales Privat- und Wirtschaftsrecht” hätte ich meinen Horizont damals somit noch in Richtung BWL, VWL, Cultural Studies o.ä. erweitern können. Von diesem Ansatz profitieren alle: Diejenigen, die später juristisch arbeiten wollen, werden durch die Nebenfächer besser verstehen, worum es ihren Mandant:innen geht - und dadurch auch besser beraten und verhandeln können.

Aber auch diejenigen, die künftig ohne Jura arbeiten wollen, ziehen einen Nutzen hieraus. Sie lernen interessante Inhalte und damit auch potentielle berufliche Ausrichtungen kennen.
 

Neugierig bleiben heißt die Devise

Und später? Nach Studium und Referendariat? Wie geht Horizonterweiterung, wenn wir im Vollzeitjob stecken, lange Tage arbeiten und das Wochenende zur Erholung und Freizeitgestaltung brauchen?

Neugierig bleiben heißt die Devise. Nach links und rechts schauen. Mit Menschen in Kontakt treten, die wir inspirierend finden. Weiterbildungen, Fortbildungen zu Themen machen, die vielleicht nichts mit dem Job, aber viel mit den eigenen Interessen zu tun haben. Zugegeben, es ist nicht immer einfach, diese Neugierde mit Vollzeit-Job, Familie, Freundeskreis und Hobbies zu vereinbaren. Aber es ist so wichtig, wenn wir erkennen wollen, welche beruflichen Perspektiven es noch für uns geben kann.

Auf der Suche nach einem neuen Job?

Die letzte Bewerbung ist schon etwas her und du bist aus der Übung? Erhalte hier wertvolle Tipps und Unterstützung und erhalte Antworten auf diese und weitere Fragen:

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Fachfremde Weiterbildungen bei juristischen Arbeitgebern für mehr Freude im Job

Und ich würde mir wünschen, dass juristische Arbeitgeber auch fachfremd weiterbilden. Natürlich darf der Bezug zum eigenen Tätigkeitsbereich nicht ganz verloren gehen – aber ein wenig Mut zu etwas Neuem, Innovativem schadet selten.

Wie wäre es beispielsweise mit Workshops zu Themen wie “Design Thinking”, “Coding für Anfänger” oder “Circular Economy”. Meine Vermutung: Gerade das brächte eine tolle Abwechslung für viele Jurist:innen und würde viele beruflich glücklicher machen - und vielleicht sogar einige dazu ermutigen, neue Karrierewege zu gehen. 

Ich bin mir sicher: Wenn wir an diesen Stellschrauben drehen, werden sich künftig mehr Jurist:innen trauen, das zu leben, was uns vor unserer Ausbildung versprochen wird: “Mit Jura kannst du alles machen!”

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Marie-Theres Boetzkes
Business Development & Trainerin

Dr. Marie-Theres „Maresi“ Boetzkes ist studierte und promovierte Juristin. Nach einigen Jahren in der Kanzleiwelt beschloss Maresi frei nach dem Motto „Mit Jura kannst du alles machen!“ ihren ganz eigenen unkonventionellen Karriereweg als Juristin einzuschlagen. Sie hat seither als Business Developerin, Trainerin für Potenzialentfaltung und Fundraiserin gearbeitet und unterstützt seit 2023 Jurist:innen dabei, ebenfalls berufliche Erfüllung zu finden. Zur Website: https://mitjurakannstduallesmachen.de