Selma Gather Deutscher Juristinnenbund juristische Ausbildung Benachteiligung

Wie gerecht ist das Jurastudium?

Strukturelle Benachteiligung in der juristischen Ausbildung

Stimmen, die Gleichberechtigung in zahlreichen Disziplinen und beruflichen Positionen einfordern, sind vor allem in den letzten Jahren lauter geworden. Wie steht es um die Chancengleichheit in den Rechtswissenschaften? Selma Gather, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FU Berlin und Vorsitzende des Arbeitsstabs “Ausbildung und Beruf” des Deutschen Juristinnenbunds e.V., weiß um die Missstände in der juristischen Ausbildung – und arbeitet daran, diese zu thematisieren und zu verändern.
 

Frau Gather, wie gleichberechtigt sind Frauen und Männer im Jurastudium und wie ausschlaggebend ist das Geschlecht für den juristischen Werdegang?

Formal betrachtet ist die Gleichstellung der Geschlechter hier längst hergestellt. Seit über zehn Jahren studieren beispielsweise deutlich mehr Frauen als Männer Jura und machen juristische Abschlüsse. Dahingehend kann also die Frage klar beantwortet werden. Eine groß angelegte Studie aus Nordrhein-Westfalen zeigte aber unlängst, dass Frauen und Menschen mit zugeschriebenem Migrationshintergrund in beiden Staatsexamina statistisch schlechter abschneiden.

Besonders drastisch ist der Unterschied in den mündlichen Prüfungen. Angesichts dieser Befunde müssen wir uns die Frage stellen, wie es um die Chancengleichheit in der juristischen Ausbildung tatsächlich bestellt ist.

Werden nämlich die Erfahrungen betrachtet, die Frauen und Männer während des Jurastudiums machen, lautet unsere These vom Deutschen Juristinnenbund, dass diese sich grundlegend unterscheiden – und die Erfahrungen auch Einfluss auf den weiteren Verlauf des beruflichen Werdegangs nehmen.

Ein erheblicher Faktor ist schon, welche Studierenden sich auf Ebene des Lehrpersonals repräsentiert sehen können. Deutsche Fakultäten sind noch immer sehr männlich und weiß dominiert. Fast 85% der juristischen Lehrstühle werden von Männern gehalten. Auch die führenden Lehrbücher, mit denen die Studierenden tagtäglich zu tun haben, sind überwiegend von Männern verfasst. Juristische Übungssachverhalte bedienen Geschlechterrollenstereotype und handeln überwiegend von Sachverhalten mit männlichen Akteuren. Frauen kommen in dieser Realität kaum vor.


Selma Gather: "Wie ist es um die Chancengleichheit in der juristischen Ausbildung bestellt?" 

Sie haben es schon angesprochen: Insgesamt sind nur 17,6% der ProfessorInnen an den juristischen Fakultäten weiblich und 0% Frauen sind als Herausgeberinnen von juristischen Handbüchern in diesem Bereich registriert. Auf welcher Stufe der Karriereleiter verabschieden sich die Juristinnen beziehungsweise werden nicht mehr berücksichtigt?

In den 17,6% sind sogar noch die Junior-Professuren eingeschlossen. Werden nur die stabilen Professuren betrachtet, sieht der Befund noch drastischer aus. Die Rechtswissenschaften liegen übrigens deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, der liegt bei 24,1%. Eine Karriere in der Rechtswissenschaft scheint also für Frauen besonders steinig zu sein. 

Wenn Sie fragen, wo sich die Frauen verabschieden, kann das ziemlich klar beantwortet werden: Der Anteil von Frauen nimmt auf jeder Stufe der Karriereleiter kontinuierlich ab. Wie ich bereits erwähnt habe, sind seit mehr als zehn Jahren über 50% der AbsolventInnen weiblich. Danach ist zu beobachten, dass nur noch etwa 40% der Wissenschaftlichen Mitarbeitenden an den Universitäten Frauen sind. Bei den abgeschlossenen Promotionen ist der Frauenanteil noch erheblich niedriger. Und letztlich habilitiert sich im Verhältnis zu den Männern nur noch ein verschwindend geringer Anteil von Frauen.
 

Wenn sich über 80% der juristischen Lehrstühle in männlicher Hand befinden, welche Rolle spielt dann letztlich die fachliche Qualifikation in den Berufungsverfahren?

Diese Frage ist nur schwer zu beantworten. Wie viele juristische Aussiebungs- oder Filtermechanismen sind auch Berufungsverfahren gewissermaßen Blackboxes. Natürlich soll es primär um die fachliche Qualifikation gehen, aber auch informelle Aspekte dürften eine tragende Rolle spielen.

Es ist jedenfalls längst erwiesen, dass Menschen tendenziell nach dem Prinzip der Selbstähnlichkeit auswählen. Wenn Fakultäten derart männlich dominiert sind, sind es auch die Berufungskommissionen. 

Bedeutet dies, überspitzt formuliert, dass Weiblichkeit und Karriere sich in der juristischen Fachwelt beinahe ausschließen oder ist es einfach nur überproportional schwer, als Frau Karriere zu machen?

Das würde ich nicht sagen. Was heißt schon Weiblichkeit? Auf keinen Fall würde ich sagen, dass Frauen grundsätzlich etwas mit sich bringen, das ihnen per se im Weg steht. Wir haben mittlerweile hochqualifizierte Frauen, die obersten Gerichten vorstehen und andere hochkarätige Stellen besetzen. Diese Juristinnen fungieren als sehr wertvolle Vorbilder und zeigen: Frausein und Karriere schließen sich nicht aus. 

Problematisch ist aber natürlich, dass sich viele juristische Berufsanforderungen an einem Normalmodell orientieren, das mit „traditionell“ weiblichen Biographien oder Rollenerwartungen nicht gut vereinbar ist. 
 

Wie genau meinen Sie das?

Richten wir den Blick beispielsweise auf die Großkanzleien, sehen wir dort auf Partnerschaftsebene auch sehr wenige Frauen vertreten. Ich glaube, dies lässt sich zu einem großen Teil auf die “traditionelle” und von Sorgearbeit und Familienverantwortung geprägte weibliche Biographien zurückführen, die nur schwer mit Anforderungen auf Partnerschaftsebene vereinbar sind. Zwar sollten diese Gründe alle, also Männer und Frauen, betreffen, in der Realität stecken Frauen hier allerdings noch deutlich mehr zurück.
 

Welche Funktion nehmen hier Vorbilder ein und glauben Sie, es gibt genügend von ihnen?

Vorbilder sind sehr wichtig und auch ein Grund, warum Erfahrungen – auch unbewusste oder nicht reflektierte Erfahrungen – von Studentinnen einfach anders sind als die von männlichen Kommilitonen. Vorbilder meine ich hier nicht im Sinne von einem mustergültigen Idealtypus, an dem ich mich orientieren kann und will, sondern einfach als die realen Perspektiven, die ich für mich sehe. Wenn ich in meinem Studium von nur einer Frau unterrichtet werde und Bücher nur von Männern lese, dann wirkt sich das natürlich darauf aus, wo ich mich als Frau in der Zukunft sehe.

Ganz alltägliche weibliche Vorbilder in der Wissenschaft sind leider nach wie vor rar. Deswegen sind Netzwerke wie der Deutsche Juristinnenbund so wichtig, dort habe ich als junge Juristin die Vorbilder gefunden, die ich in der Ausbildung nicht gesehen habe.

Die Bemühungen um Gleichberechtigung in den Rechtswissenschaften bestehen seit 40, 50 Jahren. Seitdem ist zwar einiges passiert. Sehen Sie Möglichkeiten, wie sich der Prozess effektiver gestalten lassen kann?

Die Frage nach den Strategien ist unabdingbar. Wichtig ist aus unserer Sicht erst einmal ein breiter Konsens darüber, dass der Status quo problematisch ist und es gemeinsamer Anstrengung bedarf, das anzugehen.

Bislang wurde in den Kämpfen um Gleichberechtigung das Augenmerk noch nicht ausreichend auf die juristische Ausbildung gelegt, auf die strukturellen Nachteile, die bereits dort wirken.

Wir sehen dementsprechend unsere Aufgabe darin, Aufmerksamkeit zu generieren, zu sensibilisieren und Problembewusstsein dort zu schaffen, wo Entscheidungen getroffen werden – auf Ebene der Fakultäten, der Prüfungsämter und auch unter den Studierenden.
 

Welchen Einfluss hat hier der Leistungs- und Konkurrenzdruck innerhalb der juristischen Ausbildung? Begünstigt die Konzentration auf eigene Noten und Karriere einen gewissen Stillstand in diesem Bereich?

Das ist gut möglich. Die juristische Ausbildung lässt nur wenig Platz für die kritische Auseinandersetzung mit dem Recht und anderen für Recht und Gesellschaft relevanten Themen. Bereits im ersten Semester wird nicht nur gelehrt, dass Jura mit Gerechtigkeit nichts zu tun habe, sondern auch die Art des Denkens und Arbeitens ist auf Konformität und Reproduktion gerichtet.

Es ist aber eine gewisse Offenheit und kritisches Bewusstsein nötig, um zu verstehen, dass es kein Zufall ist, dass beispielsweise weniger Frauen einen Lehrstuhl innehaben oder Menschen mit Migrationshintergrund in beiden Staatsexamina statistisch wesentlich schlechter abschneiden.

Diese Reflexionsfähigkeit sollte im Studium stärker geschult werden. Den Grundlagen sollte mehr Raum gegeben werden und anstelle des Leistungs- und Konkurrenzdrucks verstärkt kritisches Denken gefördert werden.


Wenn Sie von Grundlagen sprechen, meinen Sie damit Grundlagen des Rechts oder soziale Kompetenzen?

Tatsächlich denke ich an Grundlagen des Rechts und alternative Perspektiven auf das Recht. Methodenlehre ist ebenfalls ein Thema, dem in der Ausbildung wenig Raum gegeben wird. Soziologische oder philosophische Perspektiven finden nur am Rande statt. Überall dort liegen aber die Anknüpfungspunkte für eine kritische Auseinandersetzung und Reflexion.

Aber auch grundlegende Kompetenzen in den Bereichen Gender und Diversity werden in der Rechtspraxis zunehmend wichtiger, auch diesbezüglich könnten die Fakultäten langsam nachziehen. 

Die Rechtswissenschaften liegen übrigens deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, der liegt bei 24,1%. Eine Karriere in der Rechtswissenschaft scheint also für Frauen besonders steinig zu sein.
Selma Gather

Ein immer häufiger fallendes Stichwort in dem Kontext ist LGBTI. Bricht hier allmählich der konservative Panzer einiger Kanzleien auf?

Sicher ist es eine positive Entwicklung, dass es beispielsweise auch eigene Karrieremessen für LGBTI-AbsolventInnen gibt und Kanzleien sich um Diversity bemühen. Das ist ein guter und wichtiger erster Schritt. Der zweite Schritt zielt dann auf die Durchlässigkeit: Wer wird Partner? Wer wird Partnerin? Da sich die Arbeitswelt in vielen Fällen wie gesagt nach wie vor an der männlichen Normalarbeitsbiographie orientiert und insbesondere die Kanzleien da nicht progressiv voranschreiten, sehe ich diese Entwicklung noch nicht uneingeschränkt positiv. 
 

Sie sind Vorsitzende des Arbeitsstabs Ausbildung und Beruf im Deutschen Juristinnenbund. Wie sieht dort die Arbeit aus?

Der Deutsche Juristinnenbund engagiert sich seit über 70 Jahren in der Fortentwicklung des Rechts, unser zentrales Thema ist die Förderung von rechtlicher und tatsächlicher Gleichstellung der Geschlechter. Auf Bundes- und Landesebene bringen wir uns überparteilich in politische und Prozesse ein.

Im Arbeitsstab Ausbildung arbeiten wird daran, auf strukturelle Benachteiligungen von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen in der juristischen Ausbildung aufmerksam zu machen. In den letzten Jahren lag einer unserer Schwerpunkte auf stereotypen Übungssachverhalten. An zahlreichen Fakultäten haben wir zu dem Thema Veranstaltungen ausgerichtet und Vorträge gehalten.

Außerdem nehmen wir an aktuellen Debatten rund um die juristische Ausbildung teil, weisen dezidiert auf die diskriminierenden Strukturen hin und veröffentlichen Stellungnahmen und Pressemitteilungen zu Reformvorhaben. In den nächsten zwei Jahren soll ein weiterer Schwerpunkt auf Diskriminierung in den Staatsprüfungen liegen, also dem Umstand, dass Frauen und Menschen mit zugeschriebenem Migrationshintergrund dort offenkundig schlechtere Chancen bekommen.
 

Auf die Ungleichheiten und Realität von Juristinnen weisen Sie und Ihre Kolleginnen in dem Blog „Juristenausbildung. Üble Nachlese“ mittels verschiedener gesammelter Beispiele aus dem Alltag hin. Halfen Initiativen wie #metoo oder #aufschrei hierbei, die Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken?

Unser Blog dient dazu, Beispiele von stereotypischen Darstellungen im Lehrmaterial sichtbar zu machen und die strukturelle Dimension dahinter zu offenbaren. Denn es sind nicht – wie hin und wieder behauptet – Einzelfälle, über die man sich nicht künstlich aufregen müsse, sondern ein Massenphänomen.

Initiativen wie #metoo und #aufschrei waren natürlich Vorreiterinnen in der Thematisierung von Sexismus, an die wir gut anknüpfen und uns einreihen konnten. Ein Selbstläufer ist es deswegen aber lange nicht – durch das Internet mobilisieren sich auch sehr starke Gegenbewegungen und leider sind es häufig die aggressiven Stimmen, die uns am lautesten entgegenschlagen.

Wie sehen die Gegenreaktionen aus? Gibt es Antworten, die Ihnen regelmäßig begegnen und mit welchen Argumenten reagieren Sie darauf?

Seitdem wir uns damit auseinandersetzen, begegnen uns tatsächlich häufig die gleichen Reaktionen. Dies hat für uns zumindest den Vorteil, dass wir für die meisten mittlerweile Standard-Gegenargumente parat haben.


Können Sie hier ein Beispiel geben?

Uns wird zum Beispiel regelmäßig vorgeworfen, wir würden Ideologie betreiben und eine politische Agenda verfolgen, die weder im Recht noch in der juristischen Ausbildung angebracht ist. Schließlich werde in den Sachverhalten mit wehrlosen, an Schminktipps interessierten Frauen und ausschließlich Männern als Geschäftsführer nur die Realität abgebildet. Die juristische Ausbildung sei nicht der Ort, um eine schöne, neue Welt „herbeizuerziehen“. 

Diese typischen Abwehrreaktionen belegen, was für ein Verständnis und Selbstbild in der juristischen Ausbildung herrscht: Viele glauben an den Mythos eines objektiven, neutralen und vor allem unpolitischen Recht. Das ist aber leider Unsinn. Recht und rechtliche Praxis ist alles andere als immun für Vorurteile und politische oder subjektive Einflüsse. 


Seit einigen Jahren wird regelmäßig über Reformen im Jurastudium debattiert. Glauben Sie, dass in den kommenden Jahren Fortschritte erzielt werden und sich diese auch in der Ausbildung wiederfinden werden?

Leider ist die juristische Ausbildung ziemlich reformresistent. Reformforderungen und -überlegungen gibt es, seitdem es die juristische Ausbildung gibt. Aber sie lassen sich extrem schwer durchsetzen, denn an den großen Eckpfeilern, wie zum Beispiel den Staatsexamina und deren Struktur, will man nicht rütteln.

Mein Eindruck aus der Verbandsarbeit der letzten Jahre ist aber, dass wir mit unserer Kritik des Lehrmaterials schon Prozesse angestoßen haben und mit diesem Thema zu den wichtigen Stellen, insbesondere den Fakultäten, vordringen konnten.

Wir werden im Deutschen Juristinnenbund jedenfalls weiter daran arbeiten, auf strukturelle Missstände hinzuweisen und die Forderung nach Gleichberechtigung auch in die juristische Ausbildung hineinzutragen. Dabei kann übrigens jede Juristin mitmachen. Der Verband bietet die Gelegenheit, sich in ganz verschiedenen Bereichen rechtspolitisch zu engagieren oder einfach zu vernetzen.

Vielen Dank für das Gespräch, Selma Gather!

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