Alisha: Ja, interessant, wie sich das auswirkt. Du hast ja jetzt gerade genau diesen Teil schon mal erwähnt, diese Biografiearbeit oder Biografieanalyse, wie du es genannt hast, glaube ich.
Lydia: Genau, Biografiearbeit machen wir, genau. Und wir machen dabei auch die Sexualität. Natürlich gerade bei den Sexualstraftätern wichtig, das nennen wir Sexualanamnese. Da schauen wir ganz genau, wie sich sexuelle Entwicklungen und auch Erfahrungen und Situationen, welche da eine Rolle spielten.
Alisha: Interessant. Also erst mal ein sehr analytischer Teil in der Therapie. Kannst du uns da noch mal ein bisschen weiter mitnehmen in diese therapeutische Praxis? Was wären so die Schritte, die folgen würden? Was kann man überhaupt tun?
Lydia: Also wir schauen erst mal die Lebensgeschichte an, um zu gucken, welche Faktoren eben relevant waren. Sowohl vielleicht für gewisse Annahmen, was Sexualität angeht, oder auch möglicherweise prägende Erlebnisse. Und wir schauen auch, ob andere Faktoren wichtig sind, zum Beispiel, wenn die Personen sagen, dass sie eine sehr unauffällige Kindheit hatten, manchmal entdecken wir dann etwas, was wir emotionale Misshandlungen nennen und was auch den Menschen, die davon betroffen sind, häufig gar nicht so klar ist, weil wenn ein Kind geschlagen wird, dann kann man ja fragen, wurden sie als Kind geschlagen von ihren Eltern? Das kann man beantworten. Oder man kann auch nach sexuellen Übergriffen fragen. Auch das ist relativ klar den Menschen, was damit gemeint sein könnte. Und wenn man aber dann emotionale Misshandlungen thematisiert, dann würden Menschen sagen, was ist denn eine emotionale Misshandlung? Und das Konzept, was das ist, ist in der Bevölkerung noch nicht ganz so bekannt. Dementsprechend hatten wir zum Beispiel Menschen, die sagen, sie haben eine sehr unauffällige Kindheit. Jetzt mal zwei Beispiele: Da war ein junger Mann, der sehr überschüttet wurde mit materiellen Dingen von seinen Eltern. Also Übermaß - immer Markenklamotten und Spielzeug ohne Ende. Und er hat auch gesagt, er hatte eine Top Kindheit, seine Eltern waren großartig, haben alles für ihn getan. Unabhängig davon, was er später gemacht hat. Aber dann stellte sich halt heraus, dass die Eltern so eine Einstellung hatten von "mein Haus, mein Auto, mein Kind". Sie hatten aber zu ihrem Sohn eher eine Beziehung wie zu einem Statussymbol, als zu einem Kind. So erschien es uns, als wir uns das näher anschauten. Das heißt, die haben unter der Woche beide sehr viel gearbeitet und haben gesagt, ja, wir arbeiten doch für dich, damit du diese tollen Sachen hast. Sei doch mal dankbar. So kam er auch bei uns an. Er ist ja dankbar, dass seine Eltern das alles für ihn getan haben. Und das tolle Haus und das tolle Auto. Und am Wochenende waren sie halt erschöpft und Papa wollte Fußball spielen. Und die Mama wollte halt irgendwelche anderen Dinge machen. Und dann haben sie ihn immer mit irgendwelchen Freunden und Bekannten auf Wochenendausflüge geschickt, sogar in Urlaubsorte, so nach dem Motto, nimmt unseren Sohn doch mit, ist doch super mit den Kindern. Es machte im Gesamtbild den Anschein, als hätten sie nicht allzu viel emotionale Bindung zu diesem Kind gehabt, bis auf die Tatsache, dass es schöne Klamotten hatte und stolz sein konnte, immer mit seinen Sachen angeben zu können. Und diese strange Art von Beziehung hat sich sogar bis ins Erwachsenenalter fortgeführt. Das konnte man sogar feststellen in der Interaktion zwischen den Eltern und diesem Mann, als er schon erwachsen war. Und das ist etwas, was demjenigen nicht klar war, dass er schwer bindungsauffällig geworden ist. Also man könnte auch sagen, recht unfähig, eine normale Bindung zu leben, zu wem auch immer, weil er eine normale Bindung nie erlebt hat. Und trotzdem war er in diesem perfekten Haus mit dieser scheinbar perfekten Familie und hat nicht verstanden, dass ihm aber dieses Aufwachsen nicht gut getan hat. Und jetzt geht es aber auch nicht darum zu sagen, oh, soll man jetzt Mitgefühl für den haben oder so, denn darum mir gar nicht, sondern mir geht es darum, dass das Effekte hat auf die Art, wie ein Mensch mit seinen Gefühlen und mit seinen Mitmenschen umgeht. Und das kann halt dazu führen, dass es ihm leichter fällt, als Erwachsener sehr egozentrische Entscheidungen zu treffen und halt keine normalen Beziehungen führen zu können. Und er versteht dann vielleicht gar nicht, dass es mit solchen Faktoren zu tun hat. Oder eine andere, weniger plakative Kindheit von jemandem, der viele Geschwister hatte und wo die Eltern halt nicht viel Geld hatten und viel arbeiten mussten tatsächlich, damit sie all diese Kinder versorgen konnten - allein materiell - und dann wurde auch noch der Vater krank und die Mutter musste nun allein für die Familie sorgen und die Kinder versorgen und den kranken Mann pflegen und war natürlich am Maximum ihrer Kapazitäten über längere Zeit. Und er war halt irgendwo in der Mitte dieser Kinderreihe und war einfach auf sich gestellt. Also am Anfang kam er an und hat gesagt "ja meine Kindheit war super, ich hatte so viel Freiheit, ich konnte den ganzen Tag draußen spielen und ich habe auch keinen Ärger gekriegt, wenn ich zu spät nach Hause kam". Aber naja, die Grenze zwischen Freiheit und Verwahrlosung hatte er nicht so im Blick. Und seine Mutter war froh, dass er halt scheinbar keinen Ärger macht, dass er immer auf sich aufpasst, immer schön nach Hause kommt. Und das war eine Familie, in der es auch wenig Möglichkeiten gab, über Gefühle zu reden. Also er hat gesagt, "Gefühle? Reden? Was? Wir haben über gar nichts geredet. Ja, wir haben geguckt, dass wir abends nach Hause kommen und gut war". Also es gab keine tiefere Interaktion auch miteinander, auch wieder aus anderen Gründen. Und das war jemand, der viele Selbstwertprobleme hatte in der Pubertät und keine Ansprechpartner. Und der hat diese ganzen Selbstwertprobleme mit sich ausgemacht und das hat später begünstigt, dass er sich halt auch kriminellen Kreisen angeschlossen hat, wo er einerseits Zugehörigkeit und dann auch Selbstaufwertung erfahren hat. Und auch das ist keine Ausrede. Wir sagen immer, eine Erklärung ist keine Entschuldigung, aber es gibt Faktoren, die die Weichen möglicherweise ungünstig verschieben. Und das sind zwei Menschen, die ankamen und gesagt haben, meine Kindheit war großartig, meine Familie ist großartig und ich habe keine Ahnung, warum ich am Ende jetzt hier sitze viele Jahre, aber in Wirklichkeit hat das mit meiner Biografie gar nichts zu tun. Später war relativ klar, dass es zumindest schon ein bisschen auch was damit zu tun hatte.
Alisha: Ja. Und das ist dann etwas, was hilft, dass man quasi die Erkenntnis darüber bekommt, "okay, das hatte was mit meiner Kindheit tatsächlich zu tun". Ist das der erste Schritt, den man in der Therapie machen muss? Oder wie geht das weiter? Wie kann man diesen Menschen denn wirklich helfen?
Lydia: Genau, bei der Rückfallprävention müssen diejenigen erst mal verstehen, warum sie Grenzen überschritten haben. Sonst hätten sie keine schweren Strafstaten begangen, die die meisten anderen nicht überschreiten. Und sie haben Eigenschaften, die es ihnen ermöglicht haben, diese Grenzen zu überschreiten. Und diese Eigenschaften kann man halt erst mal aus der Entwicklung der Biografie, wie die Persönlichkeit geformt wurde und eben wie sie sich dann immer weiter dann entwickelt haben, ableiten. Und es geht auch nicht darum, dass sie irgendwann hingehen und ihren Eltern sagen "oh, ihr habt was falsch gemacht und deswegen sitze ich hier". Das ist auch gar nicht unser Anspruch und das ist auch gar nicht der Sinn der Sache, sondern es geht einfach darum zu verstehen, okay, damals gab es ungünstige Erfahrungen, die die Persönlichkeit in eine bestimmte Richtung mitgeprägt haben und daraus resultierten Eigenschaften. Und das Problem ist, wenn die Eigenschaften im Erwachsenenalter dann relativ fest sind. Also jemand zum Beispiel prinzipiell keine normalen Beziehungen führen kann. Weil er entweder ständig auf Distanz geht oder halt so Nähe-Distanz-Problem hat, also entweder klammert oder Leute von sich wegschiebt. Leute, die dann zum Beispiel auch, wenn sie Probleme haben, nicht drüber reden können oder besonders bei den männlichen Gewalttätern immer wieder Selbstwert. Ein ganz großes Thema, wenn Situationen auftreten, die den Selbstwert irgendwie ankratzen…
Alisha: Also zum Beispiel, wenn man einen Korb bekommt...
Lydia: Genau. Oder was wir auch ein paar Male hatten, diejenigen sind in Partnerschaften, werden arbeitslos, kommen in Finanznot, wollen auf keinen Fall zugeben, dass sie in Finanznot kommen, tun so, als würden sie weiter zur Arbeit gehen und machen Überfälle. Hatte ich mehrfach solche Stories. So Menschen, die dann nicht gelernt haben, über Probleme zu reden und auch über ein Problem zu reden als Schwäche wahrgenommen haben und die einzige Emotion, die ein Mann zeigen darf, ist Wut oder Aggression, aber auf keinen Fall Schwäche, Hilflosigkeit. Und das sind so Faktoren, die gerade im Gewaltbereich eine Rolle spielen können, immer mal wieder in verschiedenen Biografien. Das heißt, am Ende sollen die verstehen, warum habe ich Eigenschaften, die dazu beitragen, dass ich bestimmte Fehler wiederhole. Gerade diejenigen, die dort in der sozialtherapeutischen Anstalt sitzen, da haben wir einige, die sagen, ja, ich war das erste Mal ein paar Jahre im Knast und dann habe ich mir gesagt, ja, nächstes Mal machst du alles anders und du machst ja jetzt hier eine Ausbildung und dann wird alles gut. Und dann komme ich raus, habe wirklich vorgehabt, dass ich jetzt arbeiten gehe und alles wird gut. Ja, und dann ging es langsam schief, Job verloren, nicht so schnell neuen gekriegt, Partnerin nicht gesagt, dass ich keine Kohle habe, angefangen, mir Geld zu leihen, Schulden, überlegt, nochmal einen kleinen Raubüberfall und so. Also das ist so ein Beispiel von vielen. Und dann saß ich zum zweiten Mal da und dachte "verdammt, das war doch gar nicht so beabsichtigt. Wie ist denn das passiert?" Das ist auch wieder so ein Klassiker. Und dann kommen die nochmal raus und wenn die unbehandelt sind, dann fallen die immer wieder bei bestimmten Risikosituationen in dieselben Muster zurück. Zumindest diejenigen, die halt solche langen Karrieren von Straftaten haben. Das ist so. Das kann man nicht auf alle Straftäter projizieren, aber gerade bei den Gewaltstraftätern, die halt solche langen Kriminalitätskarrieren haben, sehen wir das. Und dann sagen die "ich komme wieder raus und eine Weile geht es gut und dann geht wieder was schief und dann geht der ganze Kreislauf wieder los". Ja und irgendwann droht ihnen dann die Sicherungsverwahrung oder die wird ausgesprochen und dann haben die erst mal sehr viel Zeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Und dann sagen die "schade, dass ich nicht vor 20 Jahren mal gelernt hätte, dass das was mit mir zu tun hat, mit meinen Eigenschaften. Weil ich habe immer gedacht, ich reiße mich zusammen und das wird gut. Und dann habe ich mich jedes Mal gewundert, dass das aber irgendwie nicht geklappt hat." Weil Menschen in ihren Mustern feststecken, zumindest einige.
Alisha: Ich meine, das kennt natürlich irgendwie jeder von sich selbst auch. Dass man mit seinen eigenen Verhaltensmustern feststeckt, sicherlich nicht was Gewalttaten angeht. Aber wenn ich mir überlege, wie oft ich mir schon gesagt habe, keinen Zucker mehr zu essen. Und dann laufe ich an irgendwas vorbei, was lecker aussieht und habe es auch nicht hingekriegt. Also das ist natürlich an sich, glaube ich, ein total bekanntes Verhaltensmuster. Die Frage ist, was lehrt ihr jetzt den Tätern, dass sie damit tatsächlich besser umgehen können?
Lydia: In der Biografiearbeit wird schon mal klar, da gibt es ein paar ungünstige Muster, die sich halt entwickelt haben, aus Gründen. Dann ging die Laufbahn der ungünstigen Muster immer weiter und dann nehmen wir eben die, wir nennen es Risikogefühle und Risikogedanken und Risikoverhaltensweisen. Die extrahieren wir aus der Biografiearbeit. Zur Biografiearbeit gehört zunächst einmal, wie gesagt, die Kindheit und dann aber natürlich auch die genaue Analyse der Straftaten. Das heißt, wir machen gerade bei den Straftaten eine genaue Analyse, welche Faktoren im Vorfeld haben diese Entscheidung und diese Entscheidung begründet. Wir gucken uns also die Straftat sehr genau an und schauen bei den wirklich schweren Straftaten auch so wie ein Drehbuch. Also wir schreiben auf "das habe ich getan, währenddessen habe ich das gefühlt und das gedacht". Und das wird halt in so einer Art Tabelle wirklich genau auseinandergenommen. Und auch eben das Vortatverhalten und auch das Nachtatverhalten.